Du brauchst niemanden, der dich repariert – Selbstwirksamkeit und Schmerz

Viele verschiedene Faktoren können dazu beitragen, Schmerzen am Bewegungsapparat zu verstärken oder zu verringern. Darüber hatte ich in einem früheren Beitrag bereits geschrieben (Link). Zu diesen Faktoren gehören neben Schädigungen im Gewebe, unter anderem auch Schlafmangel, schlechte Ernährung oder Stress. Wie das alles zusammenspielt und wie Du mit diesem Wissen dein Schmerzerleben verbessern kannst, möchte ich Dir anhand einer Analogie veranschaulichen.

Stell Dir einen großen Kaffeebecher vor. Alle Faktoren, die deinen Schmerz verstärken können, kommen in den Becher – also rein damit: Gewebeschäden, Stress an der Arbeit, schlechter Schlaf, ungünstige Verhaltensweisen, Ängste, Überzeugungen etc. Die Größe des Bechers gibt dabei die individuelle Toleranzgrenze vor. Wenn also die Dinge im Becher so gewichtig sind, dass dieser überläuft, dann empfinden wir Schmerz. Wären die Dinge im Becher weniger gewichtig, hätten wir keine oder zumindest weniger Schmerzen. Soweit, so klar. (1)

Schmerz ist die Balance zwischen allen Dingen, die schädlich (Inhalt der Tasse) und all den Dingen, die gut für dich sind (eine größere Tasse „bauen“). Schmerz entsteht, wenn die Tasse überläuft. (1)
Schmerz ist die Balance zwischen allen Dingen, die schädlich (Inhalt der Tasse) und all den Dingen, die gut für dich sind (eine größere Tasse „bauen“). Schmerz entsteht, wenn die Tasse überläuft. (1)

Diese und andere Stressoren lassen sich aber nur selten einfach so eliminieren. Jemand mit Schlafproblemen würde sicher nichts lieber tun, als eine Nacht tief und fest durchzuschlafen, kann es aber aus bestimmten Gründen einfach nicht. Genauso wenig kann oder sollte jeder, der Stress auf der Arbeit hat, gleich alles einfach hinschmeißen. Höchstwahrscheinlich wäre das eher kontraproduktiv, da dadurch weitaus größere Probleme entstünden. Was also tun, wenn wir die Sachen im Becher nicht einfach herausnehmen können?

Wir „bauen“ uns einen größeren Becher

Eine Möglichkeit besteht darin, die eigene Toleranz zu steigern, indem wir einen größeren Becher bauen. „Selbstwirksamkeit“ ist etwas, was uns dabei helfen kann. Sie ist das Vertrauen in die eigene Kompetenz, ein angestrebtes Ziel zu erreichen. (2) Wissenschaftliche Untersuchungen konnten zeigen, dass eine höhere Selbstwirksamkeit bei Menschen mit chronischen Schmerzen am Bewegungsapparat mit einer verbesserten körperlichen Funktionsfähigkeit und geringerer Schmerzintensität einher geht. (3)

Selbstwirksamkeit ist ein fragiles Gebilde

Aber Vorsicht: Selbstwirksamkeit zu verringern ist leicht. Du reduzierst sie immer dann, wenn du glaubst, dass du von jemand anderem wieder in Ordnung gebracht werden musst. Oder wenn du denkst, dass du erst eine bestimmte Operation oder eine ganz besondere Übung bekommen musst, bevor du deine Genesung beginnen kannst. Leider bekommt man oft genau so etwas von verschiedenen Seiten fälschlicherweise suggeriert: „Bevor das Knie nicht operiert ist, können Sie nicht wieder joggen“ oder „Wenn Sie nicht regelmäßig eingerenkt werden, werden Sie Ihre Rückenschmerzen sicher nicht los“. Auf dieses Thema bin ich hier schonmal eingegangen.

Natürlich gibt es auch Verletzungen bzw. Schäden im Gewebe, welche unbedingt operiert werden müssen. Dazu gehören z.B. Bandscheibenvorfälle mit massiven neurologischen Ausfällen oder komplizierte Knochenbrüche, welche von alleine nicht wieder gerade zusammenwachsen würden. Die große Kunst ist es zu erkennen, wer wirklich eine Operation oder bestimmte Therapie benötigt und wer nicht. Leider ist diese Entscheidung oftmals von wirtschaftlichen Interessen überlagert – das sollte einem immer bewusst sein.

Selbstwirksamkeit ist eine große Chance für deine Gesundheit

Jetzt kommt die gute Nachricht: Dein Körper verfügt über unglaubliche Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und Anpassungsstrategien. „Repariert“ werden muss er nur in ganz seltenen Fällen, denn viele Zeichen, die häufig als Ursache für Schmerzen verantwortlich gemacht werden, sind in Wirklichkeit nicht anderes als normale Variationen oder Alterungsprozesse: Beine können ungleich lang sein, Gelenke verschlissen oder Bandscheiben verletzt und es ist nicht gesagt, dass du deswegen Schmerzen hast. Tatsächlich zeigen sehr viele Menschen Auffälligkeiten in MRT-Bildern, ohne dabei Beschwerden zu haben (4,5,6). Der menschliche Körper kann sich offensichtlich ziemlich gut an solche Veränderungen anpassen – er ist „selbstwirksam“.

Dazu kommt, dass sich ein Mensch, im Gegensatz zu einer defekten Maschine regenerieren kann. Jeder weiß, dass eine kleine Wunde an der Haut in ein paar Tagen wieder geheilt ist. Genauso können auch andere verletzte Gewebe des Bewegungsapparates von selbst heilen. So bilden sich im Schnitt 67% der Bandscheibenvorfälle ohne Operation wieder zurück (7). Und auch Risse des vorderen Kreuzbandes können offensichtlich ohne chirurgischen Eingriff wieder zusammenwachsen (8). Alleine das zu Wissen, kann schon helfen deinen „Becher“ zu vergrößern und weniger Schmerzen zu haben.

Was kann ich noch tun?

Oftmals hilft es auch, Dinge einfach langsamer und bewusster zu tun. So bekommst du ein Gefühl dafür, was dir gut tut und was nicht, was zu viel ist und was zu wenig. Vor allem aber lernst du so, was du selbst tun kannst, um deine Schmerzen positiv zu beeinflussen. Manchmal bedeutet das, dass man für einige Zeit eine Pause einlegen muss, weil dein Körper so sehr überlastet ist. Man nimmt also zeitweise etwas Füllung aus dem Becher und steigert nach und nach wieder die Belastungen, sodass der Becher nicht überläuft, sondern die Chance hat, mit zuwachsen.

Ein Beispiel: Ich sehe häufig bei ambitionierten Hobbysportlern, dass sie sehr schnell ihr Trainingspensum steigern, ihrem Körper zu wenig Zeit zur Anpassung geben und dadurch Probleme bekommen – seien es Achillessehnen-, Knie- oder Hüftbeschwerden. Hier empfehle ich oft eine Pause oder zumindest eine deutliche Reduktion der Trainingsintensität. Sobald sich die Beschwerden beruhigt haben, kommt der nächste wichtige Schritt: Die Belastung wird mit niedrigerer Intensität wieder begonnen und langsam gesteigert. Zwischen den Belastungen gibt man sich ausreichend Zeit zum regenerieren. So kann sich dein Körper an die Belastungen Stück für Stück anpassen und seine Resilienz aufbauen – der Becher wächst.

Mein Tipp für euch

Versuche deinen Körper nicht als fragile Maschine zu sehen, sondern vertraue in seine Widerstands– und Anpassungsfähigkeit. Wenn du anfängst mehr zu tun, und du realisierst, dass du immer mehr bewältigen kannst, dann fängst du an deine Selbstwirksamkeit zu vergrößern. (1)

Referenzen

  1. Lehmann, Greg. Recovery strategies – pain guidebook – http://www.greglehman.ca/pain-science-workbooks
  2. Costa, L. D. C. M. et al. (2011). Self-efficacy is more important than fear of movement in mediating the relationship between pain and disability in chronic low back pain. European Journal of Pain, 15(2), 213–219
  3. Martinez-Calderon, Javier et al. (2018). The Role of Self-Efficacy on the Prognosis of Chronic Musculoskeletal Pain: A Systematic Review, The Journal of Pain, Volume 19, Issue 1, 10 – 34
  4. Guermazi, A. et al. (2012). Prevalence of abnormalities in knees detected by MRI in adults without knee osteoarthritis: population based observational study (Framingham Osteoarthritis Study). Bmj, 345(aug29 1).
  5. Barreto, R. P. G. et al. (2019). Bilateral magnetic resonance imaging findings in individuals with unilateral shoulder pain. Journal of Shoulder and Elbow Surgery, 28(9), 1699–1706.
  6. Brinjikji, W. et al. (2014). Systematic Literature Review of Imaging Features of Spinal Degeneration in Asymptomatic Populations. American Journal of Neuroradiology, 36(4), 811–816.
  7. Jiang, H. (2017). Incidence of Spontaneous Resorption of Lumbar Disc Herniation: A Meta-Analysis. January 2018 Pain Physician
  8. Costa-Paz M, Ayerza MA, Tanoira I, Astoul J, Muscolo DL (2012). Spontaneous healing in complete ACL ruptures: a clinical and MRI study. Clin Orthop Relat Res. 2012;470(4):979–985.