Hilfe, mein Becken steht schief – wirklich?

„Ich glaube, mein ISG ist rausgesprungen. Können Sie es wieder einrenken?“ „Der Arzt hat gesagt, mein Becken sei verdreht!“ „Ich hab wohl wieder eine ISG Blockade!“ So oder so ähnliche Aussagen höre ich sehr häufig von Patienten. Und häufig wird eine Blockade eben jenes Gelenks für alle möglichen anderen Beschwerden verantwortlich gemacht – von Kiefergelenksbeschwerden bis zu Schmerzen an den Füßen. Was wirklich dran ist am Mythos ISG-Blockade möchte ich in diesem Text näher beleuchten und ein paar immer wieder auftauchende Missverständnisse aufklären.

Was ist das ISG und wie bewegt es sich?

Das Iliosakralgelenk (ISG) oder auch Kreuz-Darmbeingelenk ist ein Gelenk, welches das Kreuzbein (Sakrum), und damit die Wirbelsäule mit den Beckenschaufeln (Ilia) verbindet. Das Gelenk ist für Stabilität gebaut. Starke Bänder und die propellerartig verwundenen Gelenkflächen mit mehreren Untiefen lassen das ISG hohe Druckkräfte übertragen. 

Die Bewegungsamplitude des Gelenks hingegen ist sehr gering. So bewegt sich das ISG, mit Ausnahme vor und nach einer Geburt, weniger als 8mm bzw. 1° um jede Achse. Das ist so wenig, dass dies zuverlässig zu erspüren schlicht nicht möglich ist. (1-3)

Was sicher auch häufig zur zweifelhaften Diagnose eines blockierten ISG beiträgt, ist die natürliche Variation der Beckenanatomie. Preece et al. haben anhand von 30 untersuchten Präparaten deutliche Unterschiede von knöchernen Referenzpunkten festgestellt. Spannend an der Studie ist vor allem, dass die Unterschiede nicht nur zwischen den jeweiligen Individuen bestehen, sondern auch häufig zwischen der rechten und linken Hälfte des selben Beckens. (4)

Diese Ergebnisse passen zu einer interessanten Arbeit von Tullberg et al., welche die Veränderung der Statik des ISG nach manueller Mobilisation untersuchten. Darin wurden 10 Patienten mit ISG Symptomen von 3 Untersuchern bestimmt, röntgenstereometrisch vermessen und mit verschiedenen Mobilisationstechniken behandelt. Nach erfolgreicher Behandlung wurden die Patienten erneut vermessen, wobei man bei KEINEM der Probanden eine veränderte Statik des Gelenks feststellen konnte. (5)

Das Ende des biomechanischen Erklärungsmodells

Aufgrund der oben beschriebenen Untersuchungsergebnisse scheint eine palpatorische Bewegungsuntersuchung nicht geeignet zu sein, um eine Funktionsstörung des ISG festzustellen. Wir Therapeuten oder Ärzte sind offensichtlich nicht in der Lage, diese minimalen Bewegungen mit unseren Händen zu erspüren. Dazu kommt, dass eine Fixierung des Gelenks in einer fehlerhaften Position nicht nachgewiesen werden konnte. Das biomechanische Erklärungsmodell, nachdem das Gelenk manuell korrigiert werden muss, ist somit nicht haltbar.

Aber warum tut es nach der Behandlung dann weniger weh?

Nichtsdestotrotz kann ein ISG schmerzen. In etwa 10-25% bei Patienten mit Kreuzschmerzen wird der Schmerz vom ISG ausgelöst. (6) Und wie wir anhand der Studie von Tullberg et al. gesehen haben, scheint die Behandlung eine Besserung zu bewirken. Wenn es aber nicht ein blockiertes ISG ist, welches wieder „eingerenkt“ werden muss, was ist es dann? 

Wie schon in meinem Beitrag über die Faszienrolle beschrieben, ist auch hier die Wirkung der manuellen Therapie vielmehr durch neurophysiologische als strukturelle Mechanismen zu erklären. (7) Sogenannte Kontextfaktoren wie beispielsweise die Erwartungshaltung des Patienten, die therapeutische Berührung und auch der natürliche Heilungsverlauf sorgen dafür, dass sich die Schmerzwahrnehmung reduziert.(8)

Vertrauen in die Selbstwirksamkeit und progressive Belastung

Es ist wichtig zu Wissen, dass ein ISG nicht einfach so „falsch“ steht oder „blockiert“ ist. Und deshalb muss es eben auch nicht von einem Therapeuten wieder in die „richtige“ Position gebracht werden. Erklärungsmodelle wie diese vermitteln eine übertriebene Fragilität,  können Ängste verstärken und die Prognose deutlich verschlechtern. (9) Man spricht in diesem Zusammenhang auch gerne von einem „Nocebo-Effekt“, dem Gegenteil von einem „Placebo“. 

Der eigentliche Grund für den Schmerz kann dabei sehr vielfältig sein. Eine ungewohnte Überlastung oder ein akutes Trauma durch eine übersehene Treppenstufe sind klassische Ursachen, die ich häufig in der Praxis sehe. Für einen langfristigen Therapieerfolg ist daher ein angepasstes Belastungsmanagement essenziell. Die verletzten Strukturen können so wieder heilen und bekommen die notwendige Belastbarkeit zurück.

Referenzen

  1. Miles, Derek & Bishop, Mark. (2019). Use of Manual Therapy for Posterior Pelvic Girdle Pain. PM&R. 10.1002/pmrj.12172. 
  2. Goode, A. et al. Three-dimensional movements of the sacroiliac joint: a systematic review of the literature and assessment of clinical utility. J. Man. Manip. Ther. 16, 25–38 (2008). 
  3. Nagamoto et al. Sacroiliac joint motion in patients with degenerative lumbar spine disorders. J Neurosurg Spine 23, 209–216 (2015). 
  4. Preece, S. J. et al. Variation in Pelvic Morphology May Prevent the Identification of Anterior Pelvic Tilt. J. Man. Manip. Ther. 16, 113–117 (2008). 
  5. Tullberg, T., Blomberg, S., Branth, B. & Johnsson, R. Manipulation does not alter the position of the sacroiliac joint: A roentgen stereophotogrammetric analysis. Spine 23, 1124–1129 (1998). Für die röntgenstereometrische Analyse (RSA) wurden den Probanden kleine Metallkügelchen in Sakrum und Ilium implantiert. Mithilfe von zwei Röntgenapparaten kann so die Stellung des Gelenks im Bereich weniger Zehntel-Millimeter genau bestimmt werden. 
  6. Simopoulos, T. T. et al. Systematic Review A Systematic Evaluation of Prevalence and Diagnostic Accuracy of Sacroiliac Joint Interventions. Pain Physician 15, E305-44 (2012). 
  7. Miles, Derek & Bishop, Mark. (2019). Use of Manual Therapy for Posterior Pelvic Girdle Pain. PM&R. 10.1002/pmrj.12172. 
  8. Rossettini, G., Carlino, E. & Testa, M. Clinical relevance of contextual factors as triggers of placebo and nocebo effects in musculoskeletal pain. BMC Musculoskelet. Disord. 19, 27 (2018). 
  9. Darlow, B. et al. The enduring impact of what clinicians say to people with low back pain. Ann. Fam. Med. 11, 527–34 (2013).

Kommentare sind geschlossen.